Die beiden Schriften sind in Stil und Charakter sehr unterschiedlich – und sie erscheinen gerade deshalb gemeinsam, weil sie in ihrer Polarität zwei mögliche Zugangswege zur Dialogischen Kultur kontrastiv aufzeigen. Die zuerst genannte Schrift stellt ihr Thema in den Kontext des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels und seiner Auseinandersetzung mit Fragen der Führung. Sie verweist auf das prinzipiell Andersartige der Dialogischen Kultur. Die zweite Schrift zeichnet nach, wie sich im Laufe von 30 Jahren die Dialogische Kultur in der Praxis eines Unternehmens entwickelt hat.
Zunächst zu Eigenständig im Sinne des Ganzen:
Der Titel ist keine Tatsachenbehauptung, sondern er bezeichnet eine ernsthafte Intention, die das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft in der Zusammenarbeit auf eine neue Basis stellt. Seit einigen Jahrzehnten verändern sich die Bedingungen der Zusammenarbeit grundlegend und damit stehen die lange Zeit gültigen, gewohnten Verhältnisse radikal in Frage. Früher war "Herrschaft" eine unangefochtene Tatsache, entweder im Sinne des historischen Königtums – Einer beherrscht Alle – oder, kaum abgemildert, aristokratisch – Wenige herrschen über Viele. Das ist auch im Zeitalter der Demokratie trotz inzwischen eingeräumter Mitspracherechte nicht prinzipiell anders: ein Einzelner (z.B. der CEO) oder eine Gruppe (die demokratische Mehrheit) herrscht über die anderen. Die Härten sind zwar im Zeitalter der Menschenrechte mehrfach abgefedert, aber das Prinzip von Überordnung und Unterordnung besteht nach wie vor. Das gilt insbesondere für die Zusammenarbeit in Organisationen und Unternehmen.
Im 20. Jahrhundert ist gerade in dieser Hinsicht eine zunächst wenig bemerkte Änderung eingetreten: Das Führungsprinzip in Organisationen lässt sich mit der Formel "Befehl und Gehorsam" nicht mehr aufrecht erhalten – selbst dann nicht, wenn es wie in der von Frederick Taylor um 1900 entwickelten "wissenschaftlichen Betriebsführung" zum Nutzen aller Beteiligten erfunden wurde: Die Arbeiter tun genau das, was ihnen gesagt wird, und als Belohnung für die daraus folgende größere Effizienz steigt ihr Einkommen. Die damit zugleich etablierte strikte Trennung von Planung und Durchführung, Denken und Handeln, Anordnen und Befolgen, die wenig später auch dem Prinzip des Fließbands bei Henry Ford zugrunde lag, hat sich – wie die Geschichte der Arbeit im 20. Jahrhunderts zeigt – nie in Reinform durchführen lassen. Die Persönlichkeit des arbeitenden Menschen ließ sich nie ganz ausschalten und hat sich gegen fortschreitende Versuche, Seele und Geist der Einzelnen einzuhegen, zunehmend gewehrt, in letzter Zeit vermehrt auch mit Folgen für die Gesundheit.
Der gegenwärtige Zustand der Arbeitsgesellschaft hat sich in zweifacher Hinsicht zugespitzt:
1. Arbeitsmotivation, Arbeitswille und sogar die Arbeitsfähigkeit vieler Menschen nehmen ab. "Führen" im Sinne von "Anordnen und Kontrollieren" funktioniert schon deshalb nicht mehr, weil immer weniger Menschen dieses "Geführtwerden" seelisch ertragen. Das belegen jährliche Berichte über die Zunahme seelischer Erkrankungen.
2. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kommt zu diesem subjektiven Faktor noch ein objektiver hinzu: Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind immer fluktuierender, undurchsichtiger, komplexer und undefinierbarer geworden (Stichwort: VUCA-Welt); sie können mit den Mitteln der klassischen Führung nicht mehr bewältigt werden. Denn das plötzliche Auftreten eines Problems während der Arbeit verlangt oft eine so schnelle Lösung, dass die Zeit nicht mehr reicht, um sich gemäß der Hierarchie hinauf und wieder hinunter Anordnungen zu holen; immer mehr der auftretenden Probleme müssen im selben Moment gelöst werden, in dem sie auftreten. Mittel- und langfristige Planungen sind ob der vielen spontan eintretenden Änderungen der Gegebenheiten obsolet geworden, ganz abgesehen von der zunehmenden Komplexität, durch die sich einfache Lösungen verbieten. Vergangenheitsbezogene Erfahrung und erworbenes Wissen allein reichen nicht mehr aus, sie haben ihre beherrschende Stellung verloren.
Man muss wohl im Zusammenhang mit beiden Entwicklungen von einem Zusammenbruch dessen sprechen, was Führung im alten Stil früher unangefochten leisten konnte. Mit "Eigenständig im Sinne des Ganzen" ist vorläufig bezeichnet, was an ihre Stelle treten kann: Das sind vor allem Eigeninitiative und Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Was wir als "Dialogische Kultur" bezeichnen, ist der Versuch, dieser Situation Rechnung zu tragen. Dialogische Kultur ist keine Theorie, kein System, kein Handlungsmuster, sondern ein fortschreitender Versuch, die alten Systemeigenschaften mehr und mehr durch neue Fähigkeiten zu ersetzen und damit zugleich den herkömmlichen Gegensatz zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft in ein anderes Verhältnis zu überführen. – Nicht zuletzt aus diesem "Fortschreiten" ergeben sich immer wieder neue Ausgaben von Eigenständig im Sinne des Ganzen, das 2009 erstmals erschienen ist.
2019 hat der Autor Karl-Martin Dietz für eine weitere Bearbeitung Angelika Sandtmann als Co-Autorin hinzu gebeten. Beide verantworten nun zusammen auch die Neuausgabe 2024 mit ihren grundlegenden Bearbeitungen und Erweiterungen. Dabei liegt ein besonderer Akzent auf der Beobachtung, dass an die Stelle von "Führung" heute zunehmend "Selbstführung" tritt. Bei näherem Hinsehen erweisen sich jedoch die Beschränkungen der sog. "Selbstführung", "Self Leadership" oder "Super Leadership" als im Widerspruch stehend zu dem, was in der Dialogischen Kultur "Selbstführung" bedeutet. Worin dieser in der Regel unentdeckt bleibende Widerspruch besteht, wird in der vorliegenden Neuausgabe differenziert herausgearbeitet.
In einem neu hinzugekommenen Kapitel wird Dialogische Kultur erstmals als innerer Weg in vier Etappen dargestellt, und das Zusammenwirken in Gemeinschaft rückt noch stärker in den Blick. – Im Zuge der gesellschaftlichen Wandlungen, die den Ausgangspunkt der Betrachtung bilden, hat sich in letzter Zeit besonders die Erwartung der Generation Z an ihre Arbeitswelt als prägender Faktor erwiesen. Deshalb haben wir in der Neuausgabe diese und ähnliche gesellschaftliche Entwicklungen besonders berücksichtigt.
Zwei Leseproben aus der Schrift:
"'Dialog' beschreibt – im Bilde gesprochen – einen inneren Weg mit Engstellen, Brücken über Abgründe, mit Abwegen, Aussichtspunkten und Steilstrecken – keine fertige oder überhaupt auf einer Karte oder dem Navi vorfindbare Straße, vielmehr ein Weg, der erst durch das Sich-auf-den-Weg-Machen entsteht und dabei ständige Aufmerksamkeit erfordert. Dieser Weg ist jedoch keineswegs willkürlich oder zufällig. Es lassen sich mehrere Etappen unterscheiden." (S. 21f.)
"Bis hierhin wurde bei der Beschreibung von Zusammenarbeit vor allem auf die Leistung der Einzelnen abgehoben. Wenn, wie in dieser Schrift, 'Eigenständigkeit' im Fokus steht, scheint das angemessen. Aber die vorrangige Bedeutung der Einzelnen bei der Verwirklichung von Dialogischer Kultur geht darüber hinaus. Wenn davon immer wieder die Rede ist, entsteht natürlich die kritische Frage: Wie soll unter diesen Gegebenheiten überhaupt etwas Gemeinschaftliches zustande kommen? – Was zuvor immer wieder zur Sprache kam, sei hier zum Abschluss noch etwas deutlicher ausgeführt: Dialogische Kultur zeigt, dass die hervorgehobene Leistung der Einzelnen nicht in einem Gegensatz steht zur Handlungsfreiheit der Gemeinschaft. Eine starke Gemeinschaft entsteht nicht gegen die Einzelnen, sondern durch sie!" (S. 69)
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In der Schrift Heute lässt sich doch keiner mehr führen! geht es um einen anderen Zugang zur Dialogischen Kultur. Auf der Grundlage einer 30-jährigen freundschaftlichen Zusammenarbeit von Götz Werner und Karl-Martin Dietz wird beschrieben, welchen Beitrag zur Dialogischen Unternehmenskultur Götz Werner durch sein Handeln in seinem Unternehmen geleistet hat. Sein Vertrauen in die Mitarbeiter und seine Anregungen zur Selbstführung waren ein wesentlicher Faktor zum Gelingen des Vorhabens. Zugleich ist damit in dieser Schrift nachzulesen, wie sich die Dialogische Kultur im Laufe von 30 Jahren Unternehmenspraxis entwickelt hat. Welche Überlegungen gab es dort? Was waren die Anlässe? Und wie wurden Gelegenheiten ergriffen, das anfänglich nicht so leicht Fassbare im praktischen Vollzug immer verständlicher werden zu lassen und auf die Erfordernisse des konkreten Unternehmens zu beziehen? Ein Unternehmen ist ja nicht, wie manche immer noch meinen, in erster Linie eine Organisation oder ein System – vielmehr spielen die darin tätigen Menschen die Hauptrolle! Vor welche Schwierigkeiten sahen sie sich gestellt? Was unternahmen sie, um diese Herausforderungen zu bewältigen? Welche Überlegungen spielten dabei eine Rolle?
Das alles wird in der vorliegenden Neuausgabe deutlicher als früher herausgestellt. Sie ist außerdem erweitert um eine aufschlussreiche Episode ("Die neue Kinderwelt") und die Wiedergabe einiger Beiträge eines bereits 2002 veröffentlichten Rundgesprächs zwischen Götz Werner und fünf seiner führenden Mitarbeiter. Darin blicken die Gesprächspartner auf die Motive des damaligen Umschwungs bei dm zurück, welcher der Einführung der Dialogischen Kultur vorausging. Wenn nun – mehr als 20 Jahre später – die damaligen Gesichtspunkte aus dem Blickwinkel einer inzwischen weiterentwickelten Dialogischen Kultur kommentiert werden, ergeben sich daraus neue Perspektiven.
Eine Leseprobe aus der Schrift:
"Im Folgenden hebt Götz Werner die Bedeutung der 'konstruktiven Unzufriedenheit' für die Autonomie in der Zusammenarbeit hervor. 'Wie bringt man es fertig, dass jeder, der in unserem Unternehmen mitarbeitet, konstruktiv unzufrieden sein kann?' (S. 53). Und, mit ähnlicher Wirkung, geht es um einen 'Umschwung vom Fragenbeantworten zum Fragenstellen […] sozusagen vom Push zum Pull, vom Direktor zum Evokator' (S. 54). Es geht letztlich darum, keinen Druck auszuüben im Hinblick auf eigenständiges Handeln, sondern ein Vakuum entstehen zu lassen, in dem Eigenständigkeit entstehen kann. Früher hat der Bezirksleiter Aufgaben verteilt und somit Druck gemacht, jetzt, wo er sich sozusagen rar macht, muss seine Beratung aktiv gesucht werden (S. 55). – An den von Götz Werner damals häufig gebrauchten Ausdrücken 'Push' und 'Pull' kann man sich das Wesentliche des damaligen Umschwungs klar machen. Wer 'gepusht' seiner Tätigkeit nachgeht, der wird von außen gelenkt: Richtung, Zielsetzung, Zeitpunkt, Intensität, Vorgehensweise des Handelns sind vorgegeben. Das ist eine Art von 'Führung', die man im Wesentlichen erleidet und den dabei erfahrenen 'Leidensdruck' an die eigenen Untergebenen weitergibt. Das Stichwort 'Pull' charakterisiert hingegen ein ganz andersartiges Vorgehen: Der Einzelne sieht, dass etwas fehlt und versucht es auszufüllen. Aber womit, in welche Richtung, wann und wie? Das hat er selbst zu entscheiden. Begnüge ich mich damit, eine sich auftuende Lücke mit Bewährtem zu füllen, oder nehme ich die Gelegenheit wahr, andersartig als bisher vorzugehen oder gar etwas Neuartiges ins Spiel zu bringen? Und damit beispielsweise zugleich zu verhindern, dass eine solche Lücke noch einmal entstehen kann? – Handle ich, weil ich den Stiefel des 'Vorgesetzten' in meinem Kreuz spüre, oder weil ich selbst Notwendigkeiten und Möglichkeiten sehe? Und für den 'Vorgesetzten' ergibt sich aus dem Umschwung vom 'Push'- zum 'Pull'-Verhalten analog die Veränderung: Wo ich früher ein bestimmtes Vorgehen anordnen musste, kann ich jetzt 'herausfordern' dazu, das sinnvolle Vorgehen selbst zu finden." (S. 56 f.)
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Beide Neuausgaben sind ab sofort im Buchhandel oder direkt über die Forschungsstelle Dialogische Kultur beziehbar:
Eigenständig im Sinne des Ganzen. Zur Intention der Dialogischen Unternehmenskultur von Karl-Martin Dietz und Angelika Sandtmann ISBN 978-3-911488-00-6 Neuausgabe 2024, überarbeitet und stark erweitert | 84 Seiten | 15 Euro
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Heute lässt sich doch keiner mehr führen! Götz W. Werners Beitrag zur Dialogischen Unternehmenskultur von Karl-Martin Dietz ISBN 978-3-911488-01-3 Neuausgabe 2024, überarbeitet und stark erweitert | 100 Seiten | 17 Euro
Karl-Martin Dietz Angelika Sandtmann
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