Vorblick auf zwei Neuerscheinungen im Oktober
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Liebe Leserin, lieber Leser,
seit Anfang des 20. Jahrhunderts spricht man in der Wirtschaft von "Führung" als einem wesentlichen Faktor des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolges. Was mit "Scientific Management" von Frederick Taylor begonnen hatte, setzte sich unter wechselnden Bedingungen bis in die Gegenwart fort. Es beruht auf einer strikten Trennung von Planen und Durchführen, von Denken und Handeln. Das war damals neu – heute wird es zunehmend fragwürdig.
Das Epochemachende an Taylors Erfindung war, dass eine genaue Vorgabe jeder einzelnen Körperbewegung z. B. beim Laden und Entladen von Schiffen mit Roheisen – eine schwere körperliche Anstrengung – zu einer deutlichen Verbesserung der Leistungen führte, ohne spürbare Mehrbelastung der Arbeiter. Der Erfolg dieser Maßnahme sprach sich schnell herum, und so versuchten auch andere Branchen, sich diese Errungenschaft zunutze zu machen. – Jahrzehnte später, in meiner Kindheit, beobachtete ich, wie eines Tages dem seit langem vertrauten Briefträger, der zweimal täglich die Briefkästen befüllte, ein Mann mit einem Messgerät auf dem Fuß folgte. Auf die Frage des Kindes, wozu das gut sei, antwortete der Briefträger: Damit sollten seine (des Briefträgers) Wege und Bewegungen genau vermessen und festgelegt werden. Vielleicht könnten sie ja verkürzt werden, und dann werde seine Arbeitszeit besser ausgenutzt. Dieser Absicht stand er selbst offensichtlich desinteressiert gegenüber. Dass er dann künftig in der gleichen Arbeitszeit mehr leisten müsste, erwähnte er nicht – oder er durchschaute es vielleicht selbst noch nicht. "Taylorisierung", wie man dieses Verfahren nannte, war offensichtlich so etwas wie ein erster Schritt in die Richtung der heute perfektionierten "Selbstoptimierung"!
Taylors Erfindung wurde von vielen begeistert aufgegriffen, und doch blieb nicht lange unbemerkt, dass der mit dem Taylorismus verbundenen weitgehenden Unterdrückung des eigenen Denkens und Fühlens nicht die Zukunft gehörte. Man entdeckte bei entsprechenden Experimenten wider Erwarten, dass der arbeitende Mensch außer seinem Körper offenbar auch noch so etwas wie eine Seele hat, deren Befindlichkeiten man Rechnung tragen muss, wenn man die Arbeitsleistung steigern will; speziell die Intelligenz des arbeitenden Menschen ist nutzbringend einzubinden (statt sie auszuschalten, wie bei Taylor). Nach und nach wurde die ganze Persönlichkeit des einzelnen Menschen, mit allen ihren Eigenschaften, dem Zweckrationalismus unterworfen, und man sprach dann von dem in einem Unternehmen versammelten "Humankapital". Diese für sich genommen interessante – aber keineswegs unproblematische – Veränderung der Führungslehren im 20. Jahrhundert kulminiert darin, dass
1. die geistigen Fähigkeiten der Einzelnen in hohem Maße für die Arbeit beansprucht und nutzbar gemacht werden (z. B. durch "Kompetenzmessung" und durch die erwähnte "Selbstoptimierung"), und dass
2. die seelische Beteiligung vieler Einzelner in der beruflichen Arbeit keine Resonanz findet und ins Leere läuft ("Sinnentleerung"). Das spiegelt sich in der bis heute zunehmenden Häufigkeit psychosomatischer Erkrankungen. Und auch das massenweise Erscheinen von psychologischen Verhaltensratgebern, mit deren Hilfe man sich, über das Arbeitsleben hinaus, von den lästigsten Übeln der Zivilisation selbst befreien könne (z. B. Depression, Einsamkeit, Beziehungsprobleme, Verunsicherung, Angst u. Ä.), dokumentiert, dass hier ein ernst zu nehmendes Defizit empfunden wird.
Dabei blieb weitgehend unbemerkt, dass auch eine "freiwillige" Erfüllung vorgegebener Ziele – denn darum handelt es sich bei der Selbstoptimierung – die Situation nicht prinzipiell verbessert. Im Gegenteil: Jetzt muss sich der Einzelne sagen, dass er ja an seiner Entmündigung selbst mitwirkt! Man kann nicht mehr einfach, wie zuvor, "den Verhältnissen" oder "den Vorgesetzten" die Schuld am Leiden in der Arbeitswelt geben – man trägt ja jetzt selbst zu diesen "Verhältnissen" bei. –
Dabei taucht auch, ganz nebenbei, die Frage auf, wer denn dieses "Selbst" eigentlich ist, das sich doch offenbar zwiespältig verhält und sich "freiwillig" (?) manipulieren lässt. –
Was seit 30 Jahren als Dialogische Führung/Dialogische Kultur entwickelt wird, versucht aus dieser selbst gewählten Einbahnstraße auszubrechen. Zur Dialogischen Kultur gehört nicht ein fertiges theoretisches Konzept, das dann in der Praxis angewandt und gegebenenfalls "angepasst" wird. Vielmehr wurde sie von Anfang an nach den Bedürfnissen eigenverantwortlich tätiger Menschen in der Wirtschaft – unabhängig von ihrer Stellung in der Hierarchie des Unternehmens! – und mit diesen zusammen entwickelt.
Dass der Dialogischen Kultur keine mechanistischen Handlungsanweisungen zugrunde liegen, dass es keine Tools, keine vorausbestimmten Maßnahmen, aber auch keine Theorien gibt, die es in die sogenannte "Wirklichkeit" wirtschaftlichen Handelns "herunterzubrechen" gälte, passt nicht recht in die Denkgewohnheiten des 20./21. Jahrhunderts. In einer "Dialogischen Kultur" der Zusammenarbeit wird gebaut auf die Pflege innerer Haltungen wie Menschenwürde und Achtung gegenüber dem Mitmenschen als Menschen; dabei stehen die Urteilsfähigkeit des Einzelnen und seine Ideenfähigkeit an erster Stelle. Weil er für sein Handeln selbst verantwortlich ist, muss er durchschauen können, was er tut und wozu und warum er es tut. – Je nach Situation können aus einer solchen Haltung verschiedene konkrete Handlungsweisen folgen.
Wie sich der Ausbau einer Dialogischen Kultur im Einzelnen auswirken kann, findet man aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben in den beiden Neuausgaben der Forschungsstelle, die, überarbeitet und erheblich erweitert, im Oktober 2024 erscheinen:
• Karl-Martin Dietz, Angelika Sandtmann: Eigenständig im Sinne des Ganzen. Zur Intention der Dialogischen Unternehmenskultur. 84 Seiten.
• Karl-Martin Dietz: Heute lässt sich doch keiner mehr führen! Götz W. Werners Beitrag zur Dialogischen Unternehmenskultur. 100 Seiten.
Eine Vorstellung der beiden Neuausgaben folgt im nächsten Newsletter.
Herzlich grüßt im Namen der Mitwirkenden der Forschungsstelle Karl-Martin Dietz
Forschungsstelle Dialogische Kultur gGmbH Hauptstraße 59, 69117 Heidelberg Tel. 06221-618991, E-Mail: info@dialogischekultur.de www.dialogischekultur.de
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