Liebe Leserin, lieber Leser,
vielen Dank für Ihr Interesse an der neu eingerichteten Forschungsstelle Dialogische Kultur! Der Anlass vor etwa 30 Jahren, im damaligen Hardenberg Institut die Dialogische Kultur zu entwickeln, waren Herausforderungen, die sich insbesondere durch grundlegende Veränderungen in der Arbeitswelt abzeichneten. Von Anfang an wurde dabei das Anliegen verfolgt, Wege zu ebnen, wie eigenständige Menschen "im Sinne des Ganzen" zusammenwirken können.
Seither haben sich die Verhältnisse bis in den Alltag hinein rasant verändert. Das stellt uns in mehrfacher Hinsicht vor noch größere Herausforderungen und bedarf einer Weiterentwicklung der Dialogischen Kultur. Wir haben deshalb eine spezielle Forschungsstelle zu dieser Problematik eingerichtet, welche diese von zwei Seiten aus angehen möchte:
1. Innere Bedingungen und soziale Wirksamkeit einer Dialogischen Kultur (K.-M. Dietz)
2. Mitmenschlichkeit in der Geistesgeschichte – ein blinder Fleck des Individualismus (A. Sandtmann)
Zu Projekt 1:
Das erste Projekt entwickelt die Dialogische Kultur weiter vor dem Hintergrund, dass sich die Lebensverhältnisse in zweifacher Hinsicht verändert haben. Zum einen wächst die Notwendigkeit, weltweit immer enger zusammenzuarbeiten. Selbst in kleineren Unternehmen und Organisationen gibt es gegenwärtig kaum noch einen Bereich, in dem nicht weit über Europa hinausreichende Verhältnisse eine Rolle spielen. Das wird z. B. auf schmerzhafte Weise spürbar, wenn dringend benötigte Arzneimittel plötzlich nicht mehr verfügbar sind, weil die Zulieferung der Rohstoffe ins Stocken geraten ist – oder wenn Handwerksbetriebe aufgeben, weil nicht nur der Nachwuchs fehlt, sondern auch die notwendigen Materialien Mangelware geworden sind. Ähnliche Phänomene zeigen an vielen Stellen, dass wir mit einzelnen Ereignissen nicht zurechtkommen, wenn wir nicht ständig den Gesamtzusammenhang berücksichtigen.
Wir müssen das Ganze in den Blick nehmen, um im Einzelnen gestalten zu können. Wo aber fängt das Ganze an? Wo hört es auf? Und vor allem: Wodurch wird das Ganze zu einem Ganzen? Worin besteht seine innere Qualität? – Das ist heute keine abgehobene Frage mehr, für die sich nur "theoretische Köpfe" interessieren. Vielmehr bedürfen Fragen dieser Art unserer täglichen Aufmerksamkeit.
Zum anderen werden die Lebensverhältnisse von vielen als immer weniger berechenbar, deutbar und fassbar erlebt – Stichwort "VUCA-Welt". Für die Wirtschaft bedeutet das z. B., dass sich immer mehr Unternehmen vor das Problem gestellt sehen, nicht mehr sicher vorausplanen zu können. Überraschend auftretende Unwägbarkeiten verschiedener Art stellen das traditionelle Verständnis von "Führung" massiv in Frage. So nehmen die gewohnten Wege vom Eintreten einer Herausforderung bis zur Entscheidung in der Chefetage und wieder zurück zur Ausführung zu viel Zeit in Anspruch. Es ist längst erkannt worden, dass, wer nach herkömmlichem Muster führen will, kaum noch etwas erreicht. Manche Entscheidungen sind schon überholt, bevor sie gefällt werden!
Um diesem Problem abzuhelfen, sind in letzter Zeit "agile" Verfahren entwickelt worden, die zu einer Beschleunigung führen. Aber offen bleibt immer noch: Wie können diejenigen, die vor Ort arbeiten, die ungewohnten Situationen, in die sie ständig geraten, selbst sinnvoll steuern? – Diese Frage, mit der die Dialogische Kultur schon länger umgeht, bleibt herausfordernd.
Zu Projekt 2:
Das zweite Projekt stellt die Frage, wie die inzwischen unübersehbaren Schattenseiten eines einseitig verstandenen Individualismus überwunden werden können, ohne seine Errungenschaften zu verlieren. Moderne Gesellschaften gründen mit Selbstverständlichkeit auf der autonomen Persönlichkeit, dem selbständigen Individuum – ein wertvolles Erbe der Aufklärung, das sich bis in die Verfassungen freiheitlich-demokratischer Staaten niedergeschlagen hat. Der im Kant-Jubiläumsjahr oft zitierte Wahlspruch der Aufklärung "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" erweist sich als hochaktuell angesichts von medialen Manipulationen und subtilen Beeinflussungen aller Art, denen wir regelmäßig ausgesetzt sind.
Gleichzeitig ist aber zu beobachten, dass dieser Mut nicht selten einem Übermut weicht, mit dem trotzig auf die eigene Sichtweise gepocht wird und der taub macht für die Perspektiven anderer. Liegt bei einer solchen Abkapselung vielleicht eine Art von sozialer Selbstisolation vor, deren allmähliche Vorbereitung sich in der Geistesgeschichte beobachten lässt? Sprachgewohnheiten wie z. B. im Wort "Umwelt" zeigen, wie sehr wir dazu neigen, uns vor allem als Einzelwesen zu sehen: Ganz selbstverständlich sehen wir uns im Mittelpunkt und setzen uns von unserer "Umwelt" ab – die Welt als bloße Umgebung. Erst mit dem stärkeren Erwachen eines ökologischen Bewusstseins wurde der Gebrauch dieses Wortes hinterfragt und so wird es inzwischen teilweise durch "Mitwelt" ersetzt. In der abendländischen Geistesgeschichte fällt auf, dass zwar viel entwickelt wurde zur Ausbildung eines differenzierten Verhältnisses des Menschen zu sich selbst, aber vergleichsweise wenig, um den Menschen als Beziehungswesen zu verstehen.
Welche Ansatzpunkte gibt es, die beschriebene Selbstisolation zu überwinden, ohne dabei das Individuelle aufzugeben? Wesentliche Anregungen finden sich beispielsweise bei Martin Buber: "Die fundamentale Tatsache der menschlichen Existenz ist der Mensch mit dem Mitmenschen", nicht der Mensch für sich allein. In dem Projekt werden neben Buber weitere Denker zu Worte kommen.
In folgenden Ausgaben des Newsletters wollen wir die Projekte genauer vorstellen und auch einen Vorblick auf Publikationen der Forschungsstelle geben, die derzeit in Arbeit sind. – Wenn bei Ihnen, den Leserinnen und Lesern, Fragen entstehen, auf die zum Beispiel im Newsletter eingegangen werden sollte, teilen Sie uns diese bitte ohne Weiteres per E-Mail info@dialogischekultur.de oder über das Kontaktformular auf der Website mit.
Herzlich grüßen im Namen der Mitwirkenden in der Forschungsstelle Karl-Martin Dietz Angelika Sandtmann
Forschungsstelle Dialogische Kultur gemeinnützige GmbH Hauptstraße 59, 69117 Heidelberg Tel. 06221-618991, E-Mail: info@dialogischekultur.de www.dialogischekultur.de
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